Mittwoch, 7. Mai 2014

Diako be (ich liebe es)


Seit Stunden versuche ich diesen Blogeintrag zu schreiben. In Worte zu fassen, was ich im vergangenen Monat erlebt habe. Aber es fällt mir schwer. Einen Monat 14 km von der Zivilisation entfernt ohne Strom, ohne Fliessendwasser. Nichts. Rundum Dschungel, mitten in einer riesigen Familie. Eine Familie, die sich von ihrem selber angepflanzten Reis ernährt. Eine Familie, die in unseren Augen als äusserst arm bezeichnet würde, aber auf eine Art und Weise unvorstellbar reich ist. Eine Gemeinschaft, wo jeder das leistet was er schon oder noch kann. Menschen, die sich gegenseitig helfen, unterstützen und eine überwältigende Toleranz aufweisen.
Das Leben dort ist so einfach, so naturverbunden, so kreativ, so hart, so lehrreich, so faszinierend und so wunderschön. Es war eine überwältigende Erfahrung, ihren Alltag mitzuerleben, die madagassischen Handwerke zu erwerben, die Menschen kennenzulernen und ihre Handhabungen zu verstehen. Es hat mich so berührt, dass ich gar nicht weiss, wie ich dir das erzählen kann, dass du verstehst, was es mit mir gemacht hat. Langsam beginne ich Madagaskar mit meinen eigenen Augen zu sehen und vieles wird mir klar oder bewusst dabei. Ich habe Verständnis für Dinge, die ich in der Schweiz niemals akzeptieren würde. Ich bin voller Bewunderung für die dort Sesshaften und unendlich dankbar dafür, dass ich, auch wenn nur für eine kurze Zeit, einen Teil davon sein durfte. Ich hatte so viel Zeit, diese so unterschiedlichen Welten miteinander zu vergleichen. Hatte so viel über meine Denkweise, meine Handhabungen sowie meine Macken nachgedacht. Mir wurde bewusst, wie oft ich mich in meinem Alltag über kleine Dinge, andere Menschen ärgere, wie oft ich mich selber in Stress versetze obwohl es überhaupt nicht nötig wäre. Diese Menschen in Maromitsinjo, wie der Ort dort heisst, sind Geduld, Toleranz und Fleiss in Person. Wenn ich nur einen kleinen Teil von ihrer Lebensphilosophie in meinen Schweizeralltag einbringen kann, bin ich überglücklich. Aber ich weiss schon jetzt, dass es mir schwer fallen wird und ich immer wieder in meine alten Muster zurückfallen werde. (wag es ja nicht, mir das dann unter die Nase zu streichen!)
Vor mim Di Hei am Riis choche

Mini Chuchi
ja, de hani nonig so

In diesem Holzhaus habe ich gewohnt. Der Wind zog zwischen den Brettern hindurch und so manche Nacht hab ich furchtbar gefroren. Wasser hab ich am Brunnen in einem Eimer geholt und diesen auf meinem Kopf – natürlich nicht annähernd so graziös wie die einheimischen Frauen das handhaben – zurück zu meinem Haus getragen. Abends, nach einer eiskalten „Chübelituschi“ hab ich im Kerzenlicht Briefe geschrieben, gelesen gestrickt und gekocht. Dies mit einem Ding, das sich Fatapera nennt. Eine Art Grill, wobei die Pfanne direkt auf die Holzkohle gestellt wird. Spätestens um neun fiel ich völlig erschöpft aber durch und durch zufrieden ins Bett. Dies, weil ich es mir nicht entgehe lassen wollte alles mitzumachen, was auch die Madagassen machen. Morgens half ich meinen Nachbarn im Reis zu arbeiten. Zurzeit ist die Reisernte angesagt. Hast du gewusst, dass es zwei verschiedene Arten von Reisanbau gibt, wobei bei der einen jedes „Äri“ einzeln mit einer Art Japanmesserklinge abgezwackt wird? Da mir keiner wirklich erklären konnte, wie man das richtig macht, hab ich halt rechts und links abgeschaut. Die erste Woche schaffte ich immer nur ein „Äri“ aufs Mal. Alsbald ich das zweite auf die gleiche Hand nehmen wollte, fiel mir das erste wieder runter. Gegen Ende des Monates bin ich aber bei stolzen zehn angelangt. Da sich alle Familien gegenseitig helfen, ist es natürlich ein Anlass um Klatsch und Tratsch auszutauschen und für mich eine optimale Gelegenheit um madagassisch zu lernen. Nun, da sie weder Französisch noch Englisch sprachen, war ich wohl darauf angewiesen. Inzwischen kann ich kommunizieren und fragen was ich möchte, bei ihrer Antwort muss ich aber immer noch beachtlich raten.
 
Minou am mitsangotra vary


wer brucht das Jahr na en kreative Hochziitsstruss?



 Am Mittag gibt’s Picknick auf dem Feld. Natürlich Reis – viel Reis -  mit etwas Bohnen oder gekochten Blättern. Nach getaner Arbeit wird der Reis in Körben und Säcken auf Kopf oder Schulter nach Hause getragen. „Wenn die das können, werd ich das wohl auch noch hinbekommen“, hab ich mir gedacht, mich dabei aber mächtig getäuscht. Zweimal ist mir der Sack, der nur halb so fest gefüllt war, wie jener der anderen, runtergefallen und als ich endlich ankam wusste ich nicht mehr wie ich mich bewegen sollte. Der Kopf tat am nächsten Tag noch weh.

Die andere Reissorte wird im Wasser angepflanzt. Bei dieser Variante schneiden die Männer mit einer Sichel Bündel ab und legen sie auf den Boden. Die Frauen sammeln diese Bündel ein, legen sie auf eine aus Blättern geflochtene Leine, binden sie zusammen und tragen sie auf dem Kopf zum „Depot“. Am nächsten Tag steht dann das „mively vary“ an. Mit einem Holzstab werden die Reiskörner aus den Ären geschlagen. Meine Güte das gibt Blasen an den Händen und Muskelkater für sieben! Zu Hause wird der Reis an der Sonne getrocknet und bevor er gekocht werden kann, widmet man sich dem „toto vary“. Dieses Wort besteht, so weit ich weiss, nicht im deutschen Wortschatz – würd es mal als „entschelfere“ betiteln. Dies funktioniert mit einem überdimensionalen Mörser, der die Blasen wieder schön aufreisst und den Muskelkater nochmals verdoppelt. Während ich darauf konzentriert war, den Reis nicht aus der Schale zu schieben und die extrem aerodynamische Begegnung abzuschauen schlug ich mir das dumme Ding doch des Öfteren an den Kopf. 



mively vary

mitoto vary
 
Mini Apitek hani innerhalb vonere Wuche plünderet. Ob für mich oder die wo da läbäd. Apitek oder Arzt isch vierze Kilometer wiiter eweg - isch denn wiit ohni Auto! (Bepanthene und Bepatine sind mini beste Fründe worde)


i blib debii: Schoggibruun halt ;)
Nun ist mein Körper ein riesen Frack. Bin übersät mit entzündeten Wunden vom Barfuss gehen und Aufkratzen der Mückenstiche, dass ich, was das anbelangt, gar nicht so undankbar bin, wieder in der Zivilisation zu leben. Die Körper der Madagassen sind durchtrainiert und sich diese Strapazen gewohnt. Sie waren mir gegenüber jedoch immer äusserst nachsichtig: „Ja, du lernst ja noch…“, hiess es so oft, wenn mir etwas noch nicht gelang. Sie waren aber auch sonst so zuvorkommend. Luden mich immer in ihr Haus, vielleicht gerade zum Essen ein oder kamen auch öfters bei mir vorbei um zu plaudern, zu stricken, den Kater nach dem Ball, wie sie die Landparty hier nennen, auszuschlafen, sich gegenseitig, die Läuse vom Kopf zu entfernen, UNO zu spielen oder einfach ein bisschen zu sein. Besonders die Kinder kamen täglich vorbei. In diesem Dorf leben soooo viele Kinder, das können wir uns gar nicht vorstellen! Auf die vier Schwestern, die alle eine andere Mutter haben und eine weitere Frau, deren Mann der Bruder des Vaters der vier Schwestern ist (ja, es hat mich auch nen Monat und eine ausführliche Zeichnung gekostet, bis ich das verstanden habe) sind ca 27 Kinder verteilt. 




Am Ball am tanze (oder posiere)
Ich glaube, das ist mitunter ein Grund, warum mich die Zeit dort so berührt hat. Ich möchte nichts generalisieren oder jemandem etwas unterstellen, aber ich kann mir gut vorstellen, dass einige dieser Kinder das Endprodukt eines Balles waren. Ein Anlass, wo alle ordentlich betrunken sind und die Geburtenrate neun Monate später ansteigen lässt. Aber das spielt dort keine Rolle. Die Kinder sind hier und akzeptiert. Aber es würde sich nie jemand bemitleiden oder beklagen für eine Aufgabe, die ihm zugeteilt ist. Ob als Mutter, die täglich harte Arbeit leisten muss um die Kinder zu ernähren, ob als neun Jähriges Kind, das so viel Verantwortung trägt für seine Geschwister, wie sie das bei uns mit achtzehn Jahren noch nicht tragen müssen, oder als Baby, das die Mutternähe nur Morgens und Abends kurz zu spüren bekommt. Wir würden da in der Schweiz eine Gefährdungsmeldung machen, weil die Kinder verwahrlosen und uns mächtig den Mund darüber zerreissen, was das für eine schlechte Mutter ist, die die Kinder alleine zu Hause lässt und sich ihnen nicht mal richtig widmet, wenn sie dann mal da ist. Hier besteht unter Erwachsenen ein viel grösseres Verständnis dafür. Helfen tun sie, indem sie ein Kind der Schwester in ihrer eigenen Familie aufnehmen. Auf meine Frage, warum dass denn der Sohn der Mutter bei der anderen Mutter lebe, lautete die Antwort: „Tsy maninona“ (Es macht nichts). So eine grosse Toleranz! So eine grosse Akzeptanz! Ich habe nie jemanden gehört schlecht über den anderen zu reden! Mai, da könnten wir ganz viel von diesen Menschen lernen. Wie schimpfen wir doch gerne über andere, wie lassen wir uns gerne über Fehler unserer Mitmenschen aus, anstelle sie in ihrem Dilemma zu unterstützen. Ich kann nicht behaupten, die Situation dort wäre besser. Keinem Kind wünsche ich, so aufwachsen zu müssen. Aber genau das meine ich, wenn ich sage, diese Menschen sind auf ihre Art und Weise unendlich reich. Sie machen, was sie können. Sie sind zufrieden mit dem was sie haben. Sie arbeiten fleissig und gerne auf ihren Reisfeldern. Jahr ein Jahr aus. Sie beklagen sich nie über Langeweile. Sie freuen sich Wochen im Voraus auf Events wie ein Ball, das Kino im Nachbarsdorf, welches den Film „Jesus“ in einer Kirche (Anita, da hätte deine Tante ganz sicher nicht platz gehabt) zeigt und das Bild halb so gross ist, wie so mancher Plasmabildschirm der bei euch zu Hause steht, das gemeinsame Kartenspielen, das Taoka gasy (Rum) trinken, was sich die Männer eigentlich nie entgehen lassen, die Reisernte bis hin zu einem Fussballspiel, das bis 3h Weg zu Fuss in Anspruch nimmt. (3h Hinweg, 1h Fussballspiel und wieder 3h zurück – ja da schlafen alle gut in der Nacht). Ja, diese Menschen in Maromitsinjo sind uns Mailen voraus, was Zufriedenheit und Ausgeglichenheit anbelangt. 

Weil in der Schule während vier meiner fünf Wochen vor Ort Ferien waren und sie mich im Vorfeld nicht darüber informierten, unterrichtete ich am Nachmittag auf ihren Wunsch Englisch. Zuerst für die Kinder, die freiwillig zur Schule kommen wollten und anschliessend für Erwachsene. Einige hatten über ne Stunde Weg. So lernwillige Schüler hab ich noch selten erlebt. Ein bisschen ist es schon schade, dass so lange Ferien waren. Die drei Lehrerinnen hätten eine Weiter – nein, eher eine Ausbildung sehr gut gebrauchen können. Es tut mir extrem Leid für die Kinder. Was ich gesehen habe, kommen die 250 Kinder morgens zur Schule, spielen den ganzen Tag und kehren am Nachmittag immer noch als Analphabeten nach Hause. Es stimmt mich traurig, denn wo sonst, wenn nicht in der Schule, sollen sie Lesen und Schreiben lernen? Ihre Eltern können es selber nicht. Aber das scheint dort normal und völlig akzeptiert zu sein. 


Ja und nun ist dieser Monat schon wieder vorbei. Es war eine Erfahrung, die ich niemals vergessen werde. Habe so viel gelernt. So viel verstanden. So viel bewundert. So viele Menschen kennengelernt. Menschen, die so arm aussehen aber so ein reiches Herz haben. - Davon wünsch ich uns allen ein bisschen. 



Morgen kommen Kathrin und Lea – ich freu mich wie ein Honigkuchenpferd (was füre cuuls Wort!) Das Reisen lag irgendwie immer so weit weg und nun steht es quasi vor der Türe. Mit dem Velo geht es erstmal Richtung Süden, dann schauen wir weiter. Freu mich so noch mehr über dieses vielfältige Land zu lernen, Dinge zu verstehen und Menschen kennenzulernen (Das hätte ich vor zwei Monaten ja auch nie behauptet!). Wie es mit meinem Blog weitergeht weiss ich noch nicht – aber irgendwie halte ich dich schon auf dem Laufenden… 
Drück euch ganz lieb! 

Grüsse von einer Chrigi mit einem Herzen wie ein Schmetterling. So glücklich, so zufrieden, so überwältigt, so…. voller Leben!